Der Heimatlosenplatz

Bis ins Jahr 1931 gab es an der Grenze von Wittnau AG zu Kienberg SO und Anwil BL ein dreieckiges Stück Land von 63 Aren, das zu keinem der Anstösserkantone Aargau, Solothurn oder Baselland gehörte. Diese unwegsame Parzelle wurde in alten Karten als «In der Freyheit» oder «Heimatlosenplatz» bezeichnet. Der Überlieferung zufolge sollen sich hier Fahrende aufgehalten haben, wenn sie sich dem Zugriff der Polizei entziehen wollten.

 

Auf Landkarten und Plänen korrekt eingezeichnet ist der Heimatlosenplatz erst ab dem 19. Jahrhundert.

Ein Beispiel dafür ist der «Plan der Hoheitsgrenze der beiden Kantone Basel und Aargau» von 1827.  (Staatsarchiv Basel Stadt, Planarchiv, D 6.4 / Ausschnitt).    

Das Niemandsland ist bezeichnet mit «In der Freiheit».
Das Niemandsland ist bezeichnet mit «In der Freiheit».

 

 

Die Heimatlosen auf dem Rothenfluher Berge

Ein Tagebucheintrag des Arztes Dr. Christian Rippmann, Rothenfluh, aus dem Jahr 1838;

abgeschrieben vom Lehrer Wilhelm Koch (1864)                               (Staatsarchiv Baselland)

 

20. Juni 1838:

«Mein Inneres ist so bewegt und ergriffen, dass kein Schlaf in meine Augen will, gleich als ob es heute das erste Mal wäre, dass ich dieses Lebens Jammer in seiner schrecklichsten Gestalt gesehen hätte. Nein, so will ich denn das schon oft erprobte Mittel versuchen und meine heutigen Erfahrungen und Gefühle meinem Tagebuch übergeben; vielleicht wird mir leichter.

 

Es war Abend nach vier Uhr, als ich von meinem Fenster den Bienen zusah, die, weil der Himmel sich zum Regnen angeschickt hatte, nun haufenweise ihrem gläsernen Hause zueilten, welches ich von einem Freunde zum Geschenk erhalten hatte. Schon oft hatte ich mich an der wunderbaren Lebensweise und Haushaltung dieser Thierchen ergötzt; schon oft war bei ihrem Anblick Trost und Friede gleich linderndem Balsam in mein Herz zurückgekehrt, wenn mich die Aussenwelt düster gestimmt hatte.

 

Da trat keuchend und schluchzend ein mit Lumpen bedecktes Mädchen von ungefähr 16 Jahren in mein Zimmer, gab sich mir als Heimatlose zu erkennen und bat mich unter Tränen, dass so bald als möglich, ihrem sterbenden Bruder, der schon längere Zeit kränklich sei und seit 8 Tagen auf dem Berge oben tödtlich krank liege, Hülfe zu bringen. Auf meine Frage, warum sie nicht schon früher Hülfe gesucht, antwortete sie, dass sie schon einige mal habe kommen wollen, aber jedes mal durch Furcht vor Landjägern und Wächtern sei verhindert worden. Ich liess das Mädchen vor mir her gehen, und als ich ungefähr eine kleine Stunde geritten sein mochte, führte der enge Thalweg rechts hinan auf den Berg. Schnell sprang das Mädchen voraus und holte einen Knaben, der mir mein Pferd hielt und es unterdessen weiden liess, während ich den steilen, unwegsamen Berg emporkletterte, wo mir schon wieder ein Dritter begegnete, um mich zu dem Kranken zu führen. Es war rührend und beschämend zugleich, wie dieser rauhe Sohn des Waldes mit zarter Sorgfalt die von Regen tropfenden Zweige abschüttelte und abbrach, damit ich nicht so nass werden sollte und bequemer gehen könne. Angekommen am Lagerplatz der heimatlos herumirrenden, fand ich auf einem Lager von Bäumästen, mit elenden Lumpe bedeckt einen abgezehrten blassen Mann von ungefähr 24 Jahren, auf dessen Gesicht sich die furchtbarsten Schmerzen und Leiden abspiegelten, verbunden mit einem Zug tiefer Trauer und Schwermuth; sein matter Blick hing an seiner Gefährtin mit dem fünfwöchentlichen Säugling im Arm, während zwei andere Unmündige sich an deren zerrissenem Rocke festhielten, und wehmüthig das eine Mal die weinende Mutter, das andere den sterbenden Vater anblickten. Noch mehrere andere, Männer, Frauen und Kinder vollendeten den Kreis um dieses Schmerzenslager, dessen Anblick selbst für die Tagsatzung ein Sporn zur schnellern Abhülfe dieses Jammers gewesen wäre.

 

Bei näheren Erkundigung erfuhr ich, dass dieser Unglückliche schon vor längerer Zeit einen Blutsturz gehabt, seither immer unwohl gewesen und dabei von einer Behörde, von einer Grenze, von einem Land und Kanton zum andern transportiert, und immer wieder freigelassen worden sei, ohne jedoch auch nur die nötigen Speisen, viel weniger ärztliche Hülfe zu erhalten. Zu seiner Wiedergenesung war keine Hoffnung da, doch verhiess ich ihm nachdem ich gethan was ich für den Augenblick thun konnte, noch einige Arzneien. Unterdessen war auch der Pfarrer aus dem Nachbardorf Witnau angekommen, um dem Armen den Trost seiner Religion zu spenden. Ihn begleitete, wohl nicht zu persönlichem Schutze sondern wegen der silbernen Gefässe, ein Bewaffneter. Der Kranke, wie die übrigen Anwesenden, wohnten der heiligen Handlung zu mit einer Inbrunst und Andacht, die Mancher unter uns zum Muster dienen dürfte.

 

Jedes Sterbebette ist für den Menschen ein erschütternder und tief dringender Anblick. Aber ein solches Sterbenslager dürfte es noch in einem weit höhern Masse sein. Der Mann der, um dem Kranken noch einige Arznei zu holen, mit mir nach Hause ging, erzählte mir, wie oft sie schon von den Landjägern ergriffen, vor Behörden geführt, wieder entlassen an die Grenzen transportiert worden seien, wie sie gleich dem Wild, Tag und Nacht gejagt und gehetzt worden, und doch nicht wissen, wofür sie sich wenden sollen; wie er selber früher bei Bauern gedient, sich wohl und glücklich gefühlt habe, aber wie dann, in Folge eines Gesetzes, das von jedem Fremdling einen Heimatschein verlangt, seine Meistersleute, weil er keinen gehabt habe, gestraft worden seien, er dienstlos geworden, und keine andere Wahl gehabt habe, als dieses unstete Leben wieder zu ergreifen; wie sie ferner ohne allen Unterricht, selbst in der Religion, aufwachsen.

 

Wahrlich es ist ein Wunder, dass diese Leute nicht, entflammt von Rache gegen ihre unbarmherzigen Mitbrüder, die ja alle selber nur Fremdlinge auf dieser Erde sind, Verbrechen auf Verbrechen, Frevel auf Frevel häufen.


Nachschrift:  Drei Tage später:

Den andern Tag kam der nämliche Mann, der gestern die Arzneien geholt hatte; auf meine Frage, wie es dem Kranken gehe, sagte er: "Ganz gut geht es, denn er ist gestorben".

Aber nicht einmal in geweihte Erde, wie sein Glaube es forderte, sollte er begraben werden, denn man fürchtete die Unkosten. Man trug ihn dafür im Sarge nach dem reformierten Rothenfluh, wo Herr Pfarrer Lichtenhahn, auf gewohnte Weise und unter Beisein vieler Ortsbewohner, die Leichenfeierlichkeiten leitete und eine rührende Rede hielt. Kaum war diese beerdigt, wurde die ganze Gesellschaft der Heimatlosen auf einen Wagen gesetzt und dem Bezirkshauptorte Sissach zugeführt, um über die Grenze einem andern Kantone zugeschoben zu werden.»

 

 

Im Totenrodel der Gemeinde Rothenfluh ist ein 25jähriger Heimatloser namens Johann Georg Scheerer eingetragen, der am 21. Juni 1838 an einer Unterleibsentzündung verstarb und zwei Tage später auf dem Friedhof von Rothenfluh beerdigt wurde.

Gemäss anderen Quellen hiess der Verstorbene Johann Georg Scheer.

(Herzlichen Dank an Giovanni Mazzucchelli, Rothenfluh, für die Mitteilung!)

 


Eine neue Sage

Irene Wegmann und Peter Rüegg haben 2015 über den Heimatlosenplatz eine wunderschöne neue Sage geschrieben: «Die Elfe vom Heimatlosenplatz» .

► Hier kann sie nachgelesen werden.



 

Interessante Details hat Michael Blatter in seinem Aufsatz «Der Heimatlosenplatz – staatenloses Land zwischen den Grenzen» zusammengetragen, der 2007 in der Zeitschrift für Geschichte «Traverse»(2007/2) erschien. 

Der Artikel kann im Internet unter diesem Link eingesehen werden:

http://retro.seals.ch/digbib/view?rid=tra-001:2007:2::129&id=browse&id2=browse1&id3=

 

 

Im Oktober 2018 sendete das Regionaljournal Aargau/Solothurn von Radio SRF1 einen Beitrag zum Heimatlosenplatz.

► Hier ist der Link dazu.

 

 

 

Des weiteren sei auf den Artikel im «Adlerauge» verwiesen.

(Jahrgang 1989, S. 29 ff.)

Hier kann er heruntergeladen werden.

Download
Heimatlosenplatz (Adlerauge 1989)
AA89_Heimatlosenplatz.pdf
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